Türkisches Kino ist… ja, was eigentlich? Wenn man ehrlich ist, kennt man nur wenige filmische Erzeugnisse aus dem Land im Mittleren Osten. Da sind Arthaus-Produktionen MUSTANG und kontroverse Überraschungshits wie TAL DER WÖLFE. Im Genre hingegen hört man immer wieder von der SICCLIN-Reihe… und von Can Evrenol. In cineastisch geprägten Fankreisen bleibt eigentlich nur noch der Name des 1982 in Istanbul geborenen Regisseurs übrig. Als „Regisseur von BASKIN“ hatte man ihn zunächst bezeichnet. Das jedoch greift viel zu kurz.

Seit Mitte der 2000er Jahredreht Evrenol Kurzfilme. Zunächst stark experimentell geprägt, entwickelt er bald einen eigenen Stil. Dennoch sind seine Einflüsse deutlich. Schon bei SCREWS (2006) kann man Lynch als Inspiration ausmachen, auch in KAVAL (2007) erforscht er die Möglichkeiten alptraumhafter Ästhetik. Zunächst vorwiegend monochrom, schleicht sich ab 2008 Farbe in seine Filme. So richtig knallen soll es aber schließlich mit TO MY MOTHER AND FATHER. Sehr klar und wertig inszeniert verweist Evrenol in seinem Kurzfilm von 2010 auf HIGH TENSION und verarbeitet LOVECRAFT-Elemente. Das shon immer vorhandene Unbehagen in seinen Filmen bekommt nun konkrete Bilder. Diese Spielart des Genrefilms begeistert auf Filmfestivals weltweit, bis 2013 Eli Roth einen Kurzfilm namens BASKIN in Sitges zu sehen bekommt… der Rest ist Geschichte.
Die Langfilmadaption ist Evrenols Durchbruch, ein riesiger Festivalhit und zugleich auch ein Film mit deutlicher Handschrift. Weltweit bestaunte man die brachiale Geburt eines Filmemachers, der eine chauvinistische Polizistengang
in die buchstäbliche Hölle schickt. Gespickt mit religiöser Symbolik, ist sein Film aber auch ein Seziermesser für die gesellschaftliche Normen.
BASKIN als Prototyp für einen Evrenol-Film zu verstehen, ignoriert jedoch die hohe Variabilität des Regisseurs. Mit HOUSEWIFE (2018) kriecht Lovecraft zurück in sein Werk. Bereits zwei Jahre später drehte er den vielleicht ungewöhnlichsten Film seiner Karriere. GIRL WITH NO MOUTH (2019) ist eine post-apokalyptische Familiengeschichte, bei der ein Mädchen auf andere versehrte Kinder stößt und sich mit ihnen durch eine unwirtliche Welt schlägt.
Obwohl er sich hier deziediert vom Genre abwendet, bleibt er demselben damit erhalten. In seinem Œuvre spielen Kinder und Frauen wichtige Rollen. Sie sind nicht Opfer, definieren sich nicht nur über ihre Männer oder Väter, sondern sind Unterschätzte in der Gesellschaft. Ähnlich unterschätzt wie SAYARA, die nichts weniger ist als eine Urgewalt. SAYARA ist brutalstes Leinwandspektakel mit einem politischen Unterbau, den es zu untersuchen gilt. Und doch: Auch hier führt wieder eine Spur zurück in seine Frühphase. 2013 hat Evrenol einen Werbeclip für MATA LEON gedreht, der SAYARA vorgreift… wie immer: nur etwas anders.
Betrachtet man das Schaffen als Ganzes, bleibt nur ein Schluss: Evrenol ist ein ganz besonderer Filmemacher. Man sollte ihn (wie auch seine Protagonist*innen) niemals unterschätzen.

CAN EVRENOLS FILME BEIM DIESJÄHRIGEN FILMFEST

SAYARA
Freitag 11. April 2024 | 18:00 Uhr
Selten hat man Typen dermaßen das Ableben gewünscht: Nach der Misshandlung ihrer Schwester durch reiche Machos zieht Sayara auf einen blutigen Rachefeldzug. Wird der FSK nicht gefallen. Uns schon.
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TUR 2024 | 98 Minuten

GIRL WITH NO MOUTH
Samstag 12. April 2024 | 15:30 Uhr
In einer postapokalyptischen Welt muss eine Gruppe Kinder, die mit Deformationen geboren wurden, den gnadenlosen Jägern der mächtigen Corporation entkommen. Ein Kinder-Adventure-Film für Erwachsene!
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TUR 2019 | 97 Minuten

BASKIN
Sonntag 13. April 2024 | 15:00 Uhr
Willkommen in der Hölle! Der Einsatz von fünf Polizisten in einem verfallenen Haus irgendwo im Nirgendwo wird zum grandios garstig-blutigen Trip in eine bizarre Zwischenwelt voller Gewalt und Tod.
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TUR 2015 | 97 Minuten